„Einer von uns…“!? – ausgegrenzt, verfolgt, ermordet: Das Schicksal des jüdischen Petriners Hugo Cohen - Bericht zum Sondervortrag

28. Jan 2024 Zurück zu Aktuelles

„Jüdischer Arzt als Judenverführer. Die Polizei berichtet“: Festgenommen wurde der 58jährige jüdische Arzt Hugo Cohen aus der Hansastraße in Dortmund und ein Vertreter aus der Möllerstraße weil sie mehrerer Jugendliche von 16-18 Jahren zur widernatürlichen Unzucht verführt haben.“ (Zeitungsartikel in der Tremonia vom 30.11.1936)

Anhand des Schicksals der jüdischen Petriners Dr. Hugo Cohen, der seit 1936 mehrfach wegen vermeintlicher Verstöße gegen §175 StGB verhaftet und letztlich 1942 im Konzentrationslager Riga ermordet wurde, referierten Dr. Frank Ahland und Manuel Izdebski in Ihrem Sondervortrag in der Reihe des Studium Generale Petrinianum in der der Petriner Aula am 24.01.2024. Dieser Vortrag war eingebettet in die Projektwoche anlässlich des Gedenktages an die Opfer des Holocaust, der am Gymnasium Petrinum am 26.01.2024 in einem zentralen Akt für die Stadt Recklinghausen begangen wurde. Beide Referenten führten in die Geschichte des §175 StGB und damit in ein dunkles Kapitel deutscher Rechtsgeschichte ein, das das Leben von geschätzt 140.000 Männern und Ihren Angehörigen zerstörte. Die im obigen Zeitungsartikel sog. „widernatürliche Unzucht“ zwischen Männern stellte der bereits im Deutschen Kaiserreich 1871 eingeführte § 175 StGB unter Strafe. Zur Zeit der NS-Diktatur (1933-1945) verschärfte sich die Gesetzgebung und der §175 wurde durch die Tilgung des Attributs „widernatürlich“ zu einem „Gummiparagraphen“, so dass Homosexuelle für Banalitäten wie Küssen, Händchenhalten oder auch nur einen träumerischen Liebensbrief inhaftiert und damit Opfer von Erniedrigungen, Verfolgungen und Ermordungen wurden. Dieser diskriminierende und menschenverachte Paragraph wurde in der Bundesrepublik Deutschland 1949 unverändert übernommen. Bis 1969 wurde in der noch jungen Bundesrepublik 45.000 Homosexuelle nach §175 verurteilt. 1969 erfolgte zwar eine Lockerung des Paragraphen, aber Homosexualität zwischen Männern blieb weiterhin strafbar. Erst 1994 wurde im Zuge der Wiedervereinigung §175 nach über 130 Jahren vollständig aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. 2002 wurden alle Urteile gemäß §175 zwischen 1935 und 1945 zurückgenommen. 2017 wurden alle Urteile gemäß §175 bis 1994 zurückgenommen. Die 5000 noch lebenden Verurteilten, deren gesellschaftliche Existenz oftmals unwiederbringlich vernichtet worden war, erhielten damals nur eine geringe finanzielle Entschädigung.

Innerhalb dieses rechtshistorischen Rahmens rückten Dr. Frank Ahland und Manuel Iszdebski das Schicksal des jüdischen Petriners Hugo Cohen in den Fokus. Er wurde am 03. März 1978 in Castrop als Sohn des lokalpoltisch engagierten und geachteten Bürgers Simon Cohen geboren. Hugo besuchte ab 1893 das Gymnasium Petinum in Recklinghausen und legt dort im Jahre 1897 sein Abitur ab. Er war damals der einzige jüdische Schüler seiner Klasse und wählte als Kind einer gutbürgerlichen, liberalen jüdischen Familie Englisch statt Hebräisch als Wahlsprache. Hugo Cohen gab bereits bei der Bewerbung um das Abitur Medizin als Berufswunsch an und legte seine Staatsprüfung in Medizin im Jahr 1900 in Freiburg ab, wo er im Jahr 1902 zum Doktor der Medizin promovierte. Ab 1906 ließ er sich als Arzt in Dortmund nieder und eröffnete eine eigene Praxis in bester Lage in der Dortmunder Innenstadt. Während des ersten Weltkriegs dient er im Offiziersrang eines Generaloberarztes. 1931 wurde erstmals gegen ihn wegen angeblicher Verstöße gegen §175 ermittelt. Die Anklage wurde jedoch fallen gelassen und es handelte sich wohl ausschließlich um Hetzte gegen ihn als Juden und Homosexuellen. Ab 1936 wurde Hugo Cohen erneut mehrfach wegen §175 in Untersuchungshaft in der berüchtigten Steinwache in Dortmund genommen, verlor später auch seine Zulassung als Arzt und wurde am 09.11.1938 nach Misshandlungen durch SA in Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Zwei Wochen später kehrte er am 24.11.1938 körperlich und seelisch gebrochen nach Dortmund zurück. Ab dem 20.05.1941 musste er zwangsweise in eines der Dortmunder Judenhäuser umziehen. Er floh von dort zu Verwandten in Halle, um von dort Anfang 1942 in das Konzentrationslager Riga deportiert zu werden. Kurz nach seiner Ankunft in Riga wurde im März 1942 in einem Waldstück erschossen.

Am 15.09.2018 wurde an seinem letztem selbstgewählten Wohnsitz am Westenhellweg 91/93 inmitten der Dortmunder Innenstadt im Beisein des damaligen Oberbürgermeisters Ulrich Sierau ein Stolperstein für Dr. Hugo Cohen verlegt.

Für diese Verlegung und das damit verbundene Gedenken an die viel zu lange kaum beachteten Opfer des §175 setzen sich Dr. Frank Ahland und Manuel Izdebski seit vielen Jahren ein. In ihrem Vortrag berichteten sie ungeschönt von der existenzvernichtendenen Grausamkeit, mit der von den Nationalsozialisten verschärfte §175 nicht nur bis 1945, sondern auch in der BRD bis 1969 und weiter bis zu seiner endgültigen Tilgung aus dem Strafgesetzbuch im Jahre 1994 tausende von Männern in Ruin und in den Tod getrieben hat, ohne dass jahrzehntelang eine angemessene Aufarbeitung erfolgt wäre: Auch heute noch steckt die historisch-wissenschaftliche Forschung dazu in den Kinderschuhen – eine Verantwortung für aktuelle und zukünftige Generationen. In diesem Sinne ist Erinnerungskultur gerade mit Blick auf die Opfergruppe der Homosexuellen in der Zeit des Nationalsozialismus als „Work in Progress“ zu verstehen, wozu Dr. Frank Ahland und Manuel Izdebski offensiv, emotional aufrüttelnd und authentisch alle Anwesenden ermunterten. Eine Schülerin fasste den Vortragsabend gelungen zusammen: „Wir lernten viel über die bewegende Geschichte des homosexuellen Juden, die uns nachhaltig berührte. Es wurde uns einmal wieder bewusst, dass die Gräueltaten überall waren, auch an unserer Schule. Wir bedanken uns für die anregenden Impulse und gedenken auch auf diese Weise der unzähligen Opfer des Nationalsozialismus.“

Frank Ahland, freiberuflicher Historiker und Mitbegründer des Arbeitskreises „Schwule Geschichte Dortmunds“ mittlerweile Stadtarchivar der Stadt Unna, hatte sich bereits im Jahre 2018 auf biographische Spuren Hugo Cohens begeben. In Zusammenarbeit mit Manuel Izdebski, dessen Expertise im Bereich der Genealogie sowie der Erforschung schwul-lesbischer Lebenswelten im Ruhrgebiet liegt, begleitete Ahland die Verlegung eines Stolpersteins zum Andenken an Hugo Cohen durch den Kölner Künstler Guntner Demnig am Dortmunder Westenhellweg.

Von: Michael Rembiak