„Hände weg vom Ruhrgebiet“: Die Ruhrbesetzung 1923 in Recklinghausen – Vortrag in der Gymnasialkirche

03. Nov 2023 Zurück zu Aktuelles

„Mitten in Europa“ – so lautet das Motto von „Recklinghausen leuchtet 2023“. Vor genau 100 Jahren war mitten in Europa, mitten in Deuschland, im Ruhrgebiet, in Recklinghausen an ein friedliches Lichterfest nicht zu denken. Stattdessen standen die Zeichen auf Krise, auf Eskalation, auf Konfrontation. Zwischen dem 11. und dem 16. Januar 1923, vor 100 Jahren, besetzten unter dem Befehl des französischen Generals Jean-Marie Degoutte französische und belgische Truppen in einer Stärke von zunächst 60.000, später 100.000 Mann das gesamte Ruhrgebiet bis Dortmund. Ziel der Besatzung war es, die Kohle- und Koksproduktion als Pfand zur Erfüllung der deutschen Reparationsverpflichtungen zu sichern. Hintergrund waren die immensen finanziellen und wirtschaftlichen Problem, mit denen die Siegermacht Frankreich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zu kämpfen hatte: Erdrückende Zinslasten zur Rückzahlung von Kriegskrediten u.a. an die USA, Arbeitskräftemangel aufgrund der hohen Zahl auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs gefallener Soldaten, eine auf nur noch 40% der Vorkriegsleistung zurückgegangene Steinkohleförderung in den heimischen Zeichen und vieles mehr.

Die Besetzung des sich damals auch begrifflich erst als „Ruhrgebiet“ etablierenden rheinisch-westfälischen Industrieregion löste in der Weimarer Republik einen Aufschrei nationaler Empörung aus. Die Belastungen für die einheimische Bevölkerung waren enorm. Mit Gewalt gingen die Besatzer gegen Widerstände aus der Bevölkerung vor und trieben illegale Zusammenkünfte oder unliebsame Protestkundgebungen mit Reitgerten auseinander. Das französische Militär war im Alltag omnipräsent. Alleine in Recklinghausen mit seinen damals ca. 60.000 Einwohnern waren 4500 französische Soldaten stationiert. Diese galt es zu versorgen und unterzubringen. Privater Wohnraum musste beispielsweise in den Bürgerhäusern entlang des Herzogswalls für die Besatzungsmacht zu Verfügung gestellt werden und öffentliche Gebäude wurden beschlagnahmt. Das Hauptquartier der französischen Truppen in Recklinghausen wurde im heutigen Altbau des Gymnasium Petrinum am Herzogswall aufgeschlagen und die Petriner Gymnasialkirche wurde zur Garnisonskirche umfunktioniert, der sogar der französische Militärbischof eine Visitation abstattete.

In eben dieser illuminierten Kirche referierte Stadtarchivar Dr. Matthias Kordes am 31.10.2023 im Rahmen der Bildungspartnerschaft zwischen Stadtarchiv und Petrinum über die Ruhrbesetzung der Jahre 1923 bis 1925. Dabei ordnete er die Ruhrbesetzung in den politischen Kontext der damaligen Epoche ein und veranschaulichte mit Bildmaterial aus dem Recklinghäuser Stadtarchiv diese Episode der Stadtgeschichte und der deutsch-französischen Beziehungen. Er tauchte damit auch in die Geschichte der vermeintlichen „Erbfeindschaft“ zwischen Deutschland und Frankreich ein, die erst Jahrzehnte später unter Konrad Adenauer und Charles de Gaulle mit dem Élysée-Vertrag von 1963 vor 60 Jahren ein Ende finden sollte. Der Abschluss des Élysée-Vertrages vor genau 60 Jahren bildet bis heute den Ausgangspunkt der deutsch-französischen Freundschaft inmitten Europas als Grundlage des großen Friedensprojekts Europäische Union – ein Vortrag daher ganz im Sinne des Mottos von „Recklinghausen leuchtet 2023“.

Von: Michael Rembiak