Auf den Spuren des Lateinischen von der Antike bis in die Neuzeit – Workshop des Lateinkurses der Stufe Q1 im Stadtarchiv Recklinghausen

09. Jun 2023 Zurück zu Aktuelles

Wie hat sich die lateinische Sprache seit der Antike verändert? Warum und in welchen Kontexten ist sie das gesamte Mittelalter hindurch bedeutend geblieben? Wie haben sich die Überlieferungsträger lateinischer Texte im Laufe der Jahrhunderte verändert? Was ist der Unterscheid zwischen einem liber, einem volumen und einem codex, was der Unterschied zwischen einem stilus, einem calamus und einer pinna? All dies sind sprach- und überlieferungshistorische Fragen, die im Lateinunterricht in der Schule nur untergeordnet eine Rolle spielen, und doch: Eine ganz und gar nicht selbstverständliche, aber glücklicherweise gelungene Überlieferungsgeschichte über 200 Jahre hinweg ist überhaupt erst der Grund dafür, warum wir heute noch in Ovids Metamorphosen den amourösen Abenteuern der olympischen Götter gespannt nachspüren oder mit Cicero um Recht und Ordnung in einer von allen Seiten bedrohten Res Publica Romana ringen.

Umso ertragreicher gestaltete sich die Exkursion, die ein Grundkurs Latein der Jahrgangsstufe Q1 des Petrinum mit Schülerinnen und Schülern aller vier innerstädtischen Kooperationsgymnasien zum Institut für Stadtgeschichte / Stadt- und Vestisches Archiv unternahm. Mit diesem verbindet das Gymnasium Petrinum seit März 2023 eine Bildungspartnerschaft „Schule – Archiv“, in deren Rahmen regelmäßig gemeinsam Projekte, Vorträge, Exkursionen und Ausstellungsbesuche realisiert werden.

Vor Ort führte Stadtarchiv- und Institutsleiter Dr. Matthias Kordes in die Überlieferungsgeschichte der lateinischen Sprache seit der Antike ein, sprach über Papyrus, Pergament und Papier und machte deutlich, welchen technischen und logistischen Herausforderungen wir die Überlieferung der antiken Literatur verdanken. Dass das Latein des Spätantike und dann des Mittelalters dabei sprachlich im Vergleich zum klassischen Latein etwa der goldenen Latinität Ciceros deutlichen Simplifikationen unterlag, ließ die Schülerinnen und Schüler dabei zunächst aufatmen. Einen AcI, einen Ablativus Absolutus oder andere syntaktische Finessen des schulischen Lateinunterrichts gilt es in mittelalterlichen lateinischen Texten nicht mehr zu überwinden. Dafür aber besteht die vielleicht sogar noch größere Herausforderung darin, die handgeschriebenen Texte überhaupt erst zu entziffern und sich durch einen wahren Dschungel von Abkürzungen zu kämpfen.

Sehr eindrücklich konfrontierte Herr Dr. Kordes die Lernenden mit dem Original der Stadtrechtsurkunde Recklinghausens, die anno 1236 in lateinischer Sprache verfasst wurde. Nur mit Hilfe des Profis, der die Abkürzungen auflöste und die im klassischen Latein falschen grammatikalischen Endungen einordnete, gelang die Entzifferung und dann auch Übersetzung des Textes, mit dem Erzbischof Heinrich von Köln der Stadt Recklinghausen die Stadtrechte zusprach. Auch andere Schätze aus der Sammlung des Archivs präsentierte Dr. Kordes, so beispielsweise ein originales mittelalterliches Wachsiegel der Stadt Recklinghausen oder eine großformatige Urkunde auf Pergament, an der man noch die Körperkonturen des Tieres erahnen konnte, aus dem das Beschreibmaterial Pergament einst gewonnen worden war.

Diese Erkenntnisse und Eindrücke bereicherten ungemein den lateinischen Lektüreunterricht, der in der Regel den Kern eines Oberstufenlateinkurses ausmacht, und evozierten bei den teilnehmenden Schülerinnen und Schülern Respekt und eine Ahnung davon, welch überlieferungsgeschichtliche Odyssee die Klassikern der lateinischen Literatur auf ihrem Weg von der Antike bis in die Gegenwart überwinden mussten, um von uns heute in digitalgedruckten Hochglanzausgaben, gesetzt in wundervoll klaren Computerschriftarten gelesen werden zu können. Dabei unterlag auch die lateinische Sprache selbst immer wieder einem Wandel, einem Wandel in Grammatik, Syntax, Semantik und auch in ihrer Verwendung von der gesprochen Muttersprache, über die Sprache der Diplomatie, des Rechts und der Gelehrsamkeit bis hin zur Schulsprache der Gegenwart, ein manifester Beweis für Ovid unsterbliches Dictum: Omnia mutantur, nihil interit – Alles verändert sich, nichts vergeht (Ov. met. 15, 165).

Von: Michael Rembiak