„Ich habe immer von sechs Tellern mit Brei geträumt…“ – Klasse 09A zu Gast im „Erzählcafé für NS-Verfolgte“

11. May 2023 Zurück zu Aktuelles

Die Blockade Leningrads (seit 1991 wieder St. Petersburg) dauerte vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944. Während der Belagerung der Stadt durch die deutsche Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs (1939-1945), im Norden riegelten finnische Truppen die Stadt ab. Die Einkesselung der Stadt durch die deutschen Truppen mit dem Ziel, die Leningrader Bevölkerung systematisch verhungern zu lassen, gilt als eines der eklatantesten Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht während des Kriegs gegen die Sowjetunion: In etwa verloren mehr als eine Million der Zivilbevölkerung der Stadt aufgrund der Blockade ihr Leben, etwa 90 % dieser Opfer verhungerten. Weitere kamen durch die Bombardierung der Infrastruktur, Brandbomben und massiven Artilleriebeschuss ums Leben – aber nicht so Vladimir Kachalov. Er überlebte als Kind die gewaltsame Belagerung und erzählte nun seine Lebensgeschichte im „Erzählcafé für NS-Verfolgte“, welches vom „Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte e.V.“ angeboten wurde und an dem die Klasse 9A mit Jugendlichen anderer Recklinghäuser Schulen am 10.05.2023 teilnahm.

Schon mit neun Jahren half Vladimiar Kachalov inmitten der Kampfhandlungen als Munitionsträger bei der Verteidigung seiner Heimatstadt gegen die Faschisten und schilderte, wie „das Klirren der Panzer eine lähmende Wirkung“ auf ihn hatte. Im Winter 1941 kam er mit seiner Mutter nach einem Bombardement bei seinem Onkel Andrej unter, 14 Personen waren sie zunächst in der kleinen Wohnung. Als Wasserquelle diente das abgekratzte Eis der Fensterscheiben, Möbel und Bücher als Brennholz für den kleinen Ofen. Die Tagesration für Brot betrug nur noch 125 Gramm, Vladimir Kachalov begann vor Hunger zu halluzinieren, träumte immerzu von sechs Tellern, die mit verschiedenen Breisorten gefüllt waren. Als Leningrad im Februar 1942 über den zugefrorenen Ladoga-See evakuiert wurde, hatten nur vier Personen der Familie überlebt. Doch die Rettung war noch nicht vollkommen, die völlig Entkräfteten mussten erst wieder an Nahrung gewöhnt werden: „Wir sahen aus wie Skelette, die sich selber fortbewegen, nichts Menschliches war mehr an uns… Ich weinte, als meine Mutter meiner Oma und mir nur 200 Gramm richtiges Weizenbrot gab und den Rest vor uns versteckte. Doch meine Oma fand das versteckte Essen…“. Wie viele andere Menschen verstarb auch Vladimirs Großmutter an den Folgen des Hungerkalküls durch die deutsche Wehrmacht.

Vladimir Kachalov hat überlebt. Er hat unablässig daran geglaubt, dass immer alles wieder gut werde und ebenso leitete ihn ein gewisser Patriotismus für St. Petersburg zu kämpfen. Noch heute besucht er gerne mit anderen Überlebenden seine Heimatstadt. Ebenso gerne begegnet er jungen Menschen und gab den interessierten Jugendlichen zuletzt mit auf den Weg, dass es schon zu spät sei, wenn ein Krieg geführt werde: „Vorher muss man alles tun, damit es gar nicht erst zu einem Krieg kommt.“

Von: Gesa Sebbel